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25 Jahre Mauerfall – Ein ganz persönliches Tagebuch aus Ostberlin

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(Foto unter CC BY-SA 2.0 von Sludge G)

Ich habe seit Tagen einen Tab offen, den ich immer noch lesen wollte und bis heute nicht dazu kam. Jetzt aber. Mikis schreibt auf Wesensbitter über seinen letzten Sommer in der DDR und das ist in der Tat verdammt lesenswert, auch und gerade weil es sehr, sehr persönlich ist. Die Beiträge entspringen seinem ganz persönlichen Tagebuch und das zeigt ganz dabei, wie toll Tagebücher sein können – ich kriege diesen Sommer nur hoch häppchenweise zusammen, bei ihm ist das sehr detailliert. Vielleicht hätten wir nie damit anfangen sollen, aus all unseren Weblogs irgendwann keine Tagebücher mehr zu machen. Spätestens in 20 Jahren werde zumindest ich das bedauern.

Mikis schreibt regelmäßig einen Artikel, der die von ihm erlebten Monate im Sommer 1989 zusammenfasst.

Ich habe gerade alle gelesen und bin ein wenig in der Zeit zurückgereist. Es ist toll, über diesen Weg an einem ganz normalen Leben von damals teilhaben zu können. Wirklich klasse! Für mich das Beste, was ich bisher zum 25. Jahrestag des Mauerfalls lesen konnte.

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(Foto unter CC BY-SA 2.0 von Sludge G)

Ein paar Auszüge:

07.Mai 1989

Heute ist Volkskammerwahl. Der totale Affenzirkus. Die anderen wollen boykottieren, ich geh hin. Auf den Stimmzettel schreib ich: „Horst Sindermann hat ‘nen steifen Pimmel dran“. Ungültiger geht’s wohl nicht mehr. Und die können mir gar nichts. Ist schließlich ne geheime Wahl. Wie sich das gehört, am Nachmittag Wahlbierziehung mit Torsten veranstaltet.

22.05.

Fragen die mich doch heut auf Schicht, ob ich nicht Kandidat der SED werden will! Hä? Ich? Geht nicht, ich werd in die Bauernpartei eintreten, hab ich gesagt. Danach musste ich mir sofort einen Krankenschein holen, auf den Schock. Kerstin hat jetzt auch einen Ausreiseantrag gestellt. Wenn sie geht, vermacht sie mir ihren Kühlschrank und ihre Plattensammlung.

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(Foto unter CC BY-SA 2.0 von Sludge G)

04.06.

Martina hat zum Frühstück grünen Tee mit Koffeintabletten gemacht, der knallt volles Brett rein. Ich renn den ganzen Tag rum, wie der Zappelkasper auf Epilepsie. Abends mit Petra im Schreiner-Hof verabredet, wollt auf dem Weg Kondome kaufen. „Ausvakooft“ sagt die Drogerieverkäuferin. „Is‘n Engpass grade, soll nächste Woche ne Lieferung kommen. Musste solange n Knoten in die Nudel machen.“ Petra hat eh ihre Tage. Dafür labert sie mir wieder die Ohren voll, mit ihren blöden Wahlprotesten. Was für ein Scheißtag.

28.06.

Peter kommt vorbei, mit zwei Flaschen Bier. Die sind nach 5 Minuten alle. Er will irgendwas, traut sich aber nicht. Irgendwann fragt er, ob ich schon mal in einer Schwulenbar war. Er würde sowas gerne mal sehen. Also nicht, weil er schwul ist, natürlich nicht, aber irgendwie interessiert ihn das, was die da machen. Und ob ich vielleicht mitkommen würde. Als Sicherheit, und damit niemand was falsches denkt. Wir verabreden uns für Freitag. Er soll was legeres anziehen, und unbedingt enge Hosen, damit wir auch reinkommen. Und natürlich sag ich niemandem was davon. Ehrenwort.

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(Foto unter CC BY-SA 2.0 von Sludge G)

19.07.

Früh steht der Geheimdiensttrabant wieder vor der Tür. Das brauchte ja nicht lange. Ich präpariere das Bier im Kühlschrank und verlasse die Wohnung. Als ich Abend wiederkomme, warten zwei Bullen vor meiner Wohnung. Ich werde verhaftet. Warum von den Bullen und nicht von der Stasi versteh ich nicht. Was sie mir vorwerfen sagen sie nicht. Wissen sie wahrscheinlich selber nicht.

08.08.

Im Radio sagen sie, das die Ständige Vertretung wegen Überfüllung geschlossen ist. Torsten ruft mich auf Arbeit an und fragt, ob wir da auch hin wollen. Klar, das ist ne geile Idee. Und so stehen wir Abends in der Hannoverschen Straße und werfen Augustäpfel über die Mauer. Die armen Flüchtlinge sollen ja auch ein paar Vitamine bekommen. Und geheime Botschaften. Deshalb haben wir jeden Apfel beschriftet. Die Bullen jagen uns aber recht schnell weg.

06.08.

Julia klingelt mich aus dem Bett. Eigentlich kennen wir uns gar nicht richtig, aber ich hab ihr im Knaack mal meine Adresse gegeben. Sie muss am Montag mit ihrer Mutter in den Westen ausreisen und hat Bock noch mal einen richtigen Ostberliner-Samstag zu machen. Ihre Freunde sind alle in Ungarn und da fiel ich ihr ein. Ich brauch erst mal zwei Gelonida und schwarzen Kaffee. Dann trinken wir ein Bier und machen einen Plan. Wir starten im Kino Kosmos und sehen uns “Dirty Dancing” an. Mein Gott, ist das ein peinlicher Film. Irgendwann tanzen alle auf ihren Plätzen, oder in den Gängen. Wir gehen bevor der Film zu Ende ist. Wir laufen zum Alex, die Stalin-Allee ist total still und sieht in der tiefstehenden Sonne umwerfend aus. Der Alextreff ist überfüllt und so gehen wir ins Nikolai-Viertel. Das ist wie eine Zeitreise, bis plötzlich eine Hundertschaft BFC-Hools auftaucht. Die sind völlig Aggro drauf und rennen mit „Sieg Heil“ Rufen durch die Straßen. Ich schubs Julia in eine kleine Gasse und wir warten, bis der Spuk vorbei ist. „Warum machen die nichts gegen diese Arschlöcher?“ fragt sie. Ja, warum nicht? Im HdjT ist Jazzabend, aber das ist egal. Wenigstens gibt es hier keine Nazis und das Bier schmeckt.

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(Foto unter CC BY-SA 2.0 von Sludge G)

03.09.

Nee, ich will nicht mehr durch den Schlosspark latschen und nee ich hab auch keinen Bock mehr auf Holländer-Viertel. Ich will nur nach Hause. Fahr ohne Marco. Zu Hause ist der Briefkasten offen und in der Küche liegen zwei Briefe von Anne. Beide geöffnet. Jemand hat mit rotem Kuli ihre Rechtschreibfehler korrigiert und Anmerkungen gemacht. Ich könnt kotzen, langsam reicht es echt. Ich latsche zwei Stunden durch die Gegend, um ein funktionierendes Telefon zu finden. Annes Mutter hat Kontakt mit ihr. Ich sag, sie soll ab jetzt die Briefe an eine sichere Adresse schicken. Anne direkt erreich ich nicht, die Leitungen in den Westen sind überlastet. Irgendjemand hat „Freygang ist ne Renterband“ an die Ringbahnhalle geschrieben.

21.09.

Elsterwerda, 5000 Splinte gegen 7000 Unterlegscheiben. Fleischbrühe in der Mitropa und 3 Bier. Bin fast durch mit „Garp, und wie er die Welt sah“. Zu Hause (alte Wohnung) liegt wieder ein geöffneter Brief (von Anne) auf dem Küchentisch. Ich hatte mich schon gefragt, wohin meine Stasibetreuer verschwunden sind. Auf dem Umschlag steht mit roten Kuli: „Nänänäääh!“ Ich hab keine Lust ihn zu lesen.

Später lese ich ihn natürlich doch.

„…es tut mir leid. Ich sitze in Paris, da wo wir in unseren Träumen immer sitzen wollten, und du bist nicht da. Und ich bin trotzdem glücklich. Ich bin verliebt, ich fühle Schmetterlinge in meinem Bauch und es sind nicht deine Hände, die mich festhalten. Verzeih mir und vergiss mich nicht. Oder vergiss mich doch…“

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(Foto unter CC BY-SA 2.0 von Sludge G)

Die Fotos in diesem Beitrag sind nicht von Mikis, sondern aus dem großartigem DDR-Album von Sludge G und sind alle im Jahre 1990 entstanden.

(via Torsten von der E-Gruppe, der, wenn mich nicht alles täuscht, auch Teil der Geschichten ist)

6 Kommentare

  1. Herr Schwarz2. November 2014 at 18:40

    Danke!
    Deswegen werde ich mir Deinen Blog mal ausdrucken.
    Ins Regal stellen.
    Meinen Kindern zeigen.

  2. Matze2. November 2014 at 22:01

    Einfach Danke. Der letzte Post hat mich richtig mitgenommen. Sowas ähnliches hab ich auch erlebt. Flashback der krassen Sorte. Trotzdem tausend Dank!

  3. bromhexin3. November 2014 at 21:32

    ich erinnere mich an die komische Stimmung in dem Sommer, zB. im Club Impuls in der Czarnikauer.. in alle Grüppchen wurde übers Ausreisen und die getuschelt die es schon geschafft hatten.. ein Freund wollte mir erzählen daß er über Ungarn.. ich fiel ihm ins Wort, ich wollte nichts wissen davon, nicht wann nicht wie, aus Angst er würde mich verdächtigen wenn es nicht klappte.. Die Stasi zog ihn dann in Schönefeld aus dem Zug und schickte ihn zurück, er hatte sich blöderweise auf dem Hauptbahnhof (Ostbahnhof) tränenreich von seiner Freundin verabschiedet.. ja so war das

  4. Strugarkowski5. November 2014 at 01:05

    Super Bilder!

  5. thomas7. November 2014 at 12:13

    moin!
    icke war zu der zeit bei der nva im grundwehrdienst und hab alles anders erlebt als die, die nicht dienten…
    den sommer 89 des tagebuches hab ich mir eben durchgelesen. toll!
    danke und beste grüße

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