Die DDR war ein kleines Land. Von Berlin aus gestartet konnte man in jede beliebige Ecke des Landes gelangen, ohne auch nur 500 Kilometer fahren zu müssen. Da endete dann für einige die Republik, für viele andere allerdings endete dort die Welt. Es war nicht ganz unproblematisch Visa für die damalige ČSSR, Polen, Ungarn oder gar Bulgarien zu bekommen. Über die westlichen Länder brauchte man schon gar nicht nachdenken. Gut, wenn man bereits das Rentenalter erreicht hatte, war es wohl etwas einfacher, nur der bürokratische Weg, den man gehen musste um an ein solches Visum zu kommen, war nicht wenigen so lästig, dass sie diesen nicht gehen wollten.
So versuchte man, es sich im eigenen und kleinen Lande auch zur Urlaubszeit gemütlich zu machen und machte aus jedem Weg, sei er auch noch so kurz gewesen, eine richtige Reise. Wenn die Eltern zu ihren Eltern fahren wollten, was recht häufig vorkam, um dort eine Woche „Urlaub“ zu machen, (wie sie es immer nannten) dann wurde schon aus der Hinfahrt ein Elebniss. Da wurden Thermoskannen, mit Kaffee gefüllt, Brötchen belegt und eingepackt und Schnitzel gebraten. Man sollte nicht Hungern müssen, auf dieser Fahrt. Eben so, wie es sich für eine richige Reise geziemt. Gefahren wurde mit dem Trabant Kombi und es wurden mindestens drei Pausen eingeplant. Das Ziel lag 230 Kilometer entfernt und man brauchte locker vier Stunden. Wenn es schnell ging. Es sollte eben eine richtige Reise werden, was auch immer gelang. Wir als Kinder, dachten immer, dass das schon unheimlich weit sein musste. Es dauerte ja auch so lange. Die damals gefahrenen Durchschnittsgeschwindigkeiten sind mit den heutigen nicht zu vergleichen. 80 km/h waren viel.
Das was man heute mal an einem Sonntagnachmittag im Vorbeifahren in nicht mal zwei Stunden abreißt, waren damals ganze Anreisen. Ganz groß wurde es dann, wenn man wirklich mal ins Erzgebirge fuhr, oder gar in den Harz. Da machte man dann halbe Tagesreisen. Aber man hatte immer das Gefühl, gaaaaaaanz weit weg zu kommen. Vielleicht machten die Eltern deshalb auch ganz bewusst ein derartiges Brimboruim um die verhältnissmäßig wenigen Kilometer. Vielleicht wollten auch sie das Gefühl haben, eine große Reise zu bestreiten.
Mit dem Fall der Mauer konnten sich einige dann an andere Wege gewöhnen. Man konnte in vierzehn Stunden nach London fahren oder auch nach Paris, wenn man denn wollte. Zeit wurde wertvoller. Pausen gab es nur in ernstzunehmenden Notsituationen wie dem auftretenden Harndrang, oder dem Bedürfniss nach Kaffee, den man nicht mehr in die Thermoskanne zwängen wollte. Den holte man sich den frisch, an den zu Hypermärkten mutierten Rastplätzen. Sechs stunden bis in den Harz? Nein, da könnte man schon glatt in Köln sein, wenn man denn wollte. Viele wollten. Viele wollten sogar noch viel weiter. Die Autos, die nun in den seltensten Fällen noch Trabbis waren fuhren um einiges schneller und man rechnete so pi mal Daumen für 100 Kilometer eine Stunde. das klappte meistens auch ganz gut.
Heute können, die damals als so weit empfundenen, 230 Kilometer im übelsten Fall dein Arbeitsweg sein, oder eben die Anfahrt für einen Tagesausflug. In keinem Fall aber sind die eine Reise. Zumindestens für die Wenigsten. Wenn man heute eine Reise machen will, fährt man auch mal 4000 Kilometer. Das lohnt sich dann auch, die Welt ist ja größer geworden. Alles kein Problem…
Aber es gibt auch noch jene, für die eben genau diese kurzen Wege zu einer Reise werden. Sie braten sich Bulletten, füllen genau wie damals die Thermoskannen und haben immer noch das Gefühl der Harz sei mindestens soweit weg, wie die spanische Mittelmeerküste. Nur an die will man gar nicht. „Der Harz ist doch auch schön“. Komisch sind die Menschen, die sich immer noch an dem Zaun als Maßstab ihrer räumlichen Entfaltungsmöglichkeiten orientieren. Und irgendwie sind sie auch ein wenig zu bedauern. Nur: Sie bedauern sich nicht selbst. Sie wollen nicht mehr, weil sie „nicht mehr brauchen“, wie sie sagen. Viele von denen kommen aus ländlichen Gegenden und sind sozial nicht unbedingt gut gestellt. Vielleicht wäre es anders, wenn es ihnen finanziell besser ginge, vielleicht ensteht der Drang danach weit zu kommen, mit den dafür nötigen Euros auf dem Konto, vielleicht aber, sind sie auch einfach noch das, was sie immer waren: DDR-Bürger. Ich weiß, dass es im Westen ähnliche Persönlichkeiten und Reisegewohnheiten gibt, aber die treffen sich eher selten mit den meinigen, um sich mal auszutauschen. Und ganz so klein ist die Welt für die meisten derer dann auch im Osten nicht mehr. Viele von denen wollen mal nach Bayern, „weil es da so schön sei“, wie sie sagen. Sie packen dafür ihre Stullen und Thermoskannen ein und machen so eine richtige Reise daraus. 700 Kilometer in zwölf Stunden. Fast so wie früher, nur nicht mehr mit dem Trabbi. Ich freue mich für sie, wenn ich nach der selben Zeit im Auto in Paris oder London an sie denken muss.