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Manche Gesichter vergisst man sein Leben lang nicht. Nie. Ganz gleich auch, wie lange es her ist, das man sie das letzte Mal gesehen. Ernst hat so ein Gesicht. Er wohnte früher in der „Neuen Wohnstadt“, gegenüber der Kaufhalle, direkt neben dem kleinen Zeitungskiosk, bei dem ich als Kind immer meine Flieger-Revue kaufen ging und wo seit der Wende der Dönerladen drin ist. Ernst arbeitete in dem großen Reglerwerk, sowie Tausende andere in unserer Stadt auch. Er muss ziemlich mies verdient haben damals. In seiner Freizeit verdiente er sich deshalb noch ein paar Mark dazu, in dem er Fahrräder wieder „flott machte“, wie er das nannte. Ernst sammelte irgendwelche Rahmen ein und machte wieder funktionierende Gefährte daraus. Diese verkaufte er dann an alle möglichen Leute, die ein Fahrrad brauchten, aber billig dabei wegkommen wollten. Ich weiß nicht mehr, wie wir an den Typen geraten sind , ich weiß aber, dass wir irgendwann einen Deal mit ihm hatten: Wir sammelten auf den Schrottplätzen der Umgebung Fahrradteile jeglicher Art und wenn die noch brauchbar waren, bezahlte er uns ein paar Mark dafür. Irgendwo lag immer was rum, was noch verbaut werden konnte. Sattel, Lenker, Räder und all so ein Kram.

Er soff wie ein Loch, seine Familie hatte schwer darunter zu leiden, was ihm aber nichts wert war. Er hatte sich neben seinem Kohlenkeller eine kleine Werkstatt in die Sechziger Jahre-Mietskaserne gezimmert. Wahlweise konnte man darin auch prima feiern, was er regelmäßig mit seinen Freunden tat, wie er sagte. Obwohl ich mir nie sicher war, das er davon mehr als eine Handvoll hatte. Wenn Ernst mal nicht arbeiten war, verbrachte er seine komplette freie Zeit in diesem Keller. Dort stand ein Radio, sein Goldbrand und es roch immer nach Zigarettenrauch – er rauchte Kette. Wir fanden es spannend, unsere Samstagvormittage dort zu verbringen. Außerdem gab es meistens, wenn wir Teile mitbrachten, auch etwas Geld, dass wir sogleich in die Kaufhalle tragen konnten.

Ernst war nie sonderlich freundlich, so ein Brubbelkopp eher, der, zudem noch dazu neigte, ständig aufschneiderische Geschichten zu erzählen. Er könne Karate und all so einen Schmiss wollte er uns weismachen. Irgendwann rastete er im Keller aus. Keiner wusste so recht worum es ging, was auch egal war. Er flippte völlig aus, schrie uns an, drohte damit, uns zu verprügeln. Dabei drückte er einen von uns an die Wand und sah ihn mit so einem Irrenblick an. Er schrie und schrie und schrie. Wir bekamen es mit der Angst und flüchteten förmlich vor ihm. Danach gingen wir nie wieder hin. Über dreiundzwanzig Jahre muss das her sein. Dann zog er um und ich habe ihn seit dem nie mehr wirklich wahrgenommen und bin mir sicher, ihn zwanzig Jahre lang nicht mehr gesehen zu haben.

Vorhin stand er mir gegenüber. Am Bahnhof. Viel kleiner wirkt er heute und sieht um Längen schlechter aus, als damals schon. Hager ist er, fast dürre. Eine dieser Billigzigarillos, für 2,30€ die Schachtel, steckte schlaff in seinem Mund. Das Gesicht ist faltig, die quallig teigige Haut ist untersetzt mit vielen roten Äderchen, die nach und nach alle aufzuplatzen drohen. Die Nase ist knallrot. Keine Frage: er ist immer noch ein Säufer, nur wahrscheinlich ist er das noch konsequenter als er es damals ohnehin schon war.

Ich habe ihn sofort erkannt. Er mich nicht.

Ein Kommentar

  1. Julie Paradise24. Januar 2008 at 15:43

    Immer wieder beruhigend, daß die Gespenster aus der Kindheit so ein schlechtes Gedächtnis haben.

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