Zum Inhalt springen

Die Kleine in unserem Kaff hatte einen großen Bruder, er war sieben Jahre älter als wir und leitete den Ortsgruppenverband der Jungen Nationalen oder das, was man heute darunter versteht, trug 9-Loch Walkers, hochgeschraubt, in denen natürlich weiße Schnürsenkel steckten, hochgekrempelte Domestos501er, Lonsdale Hoodie und Bomberjacke, die er später gegen eine weinrote Harrington tauschte, dem Stil wegen, wie er meinte. Dazu Glatze. Er war der tüpische Nazi vom östlichen Lande, einer, wie es zu Beginn der Neunziger tausende gab. Auf seiner Brust hatte er erst einen Union Jack genäht, in dessen Mitte „Oi!“ geschrieben stand, später dann – er merkte wohl, dass das, was er wollte mit Oi! nichts zu tun hatte, dachte aber anfangs, das müsste so, weil die englischen Skins es auch so trugen – tauschte er den Sticker gegen einen auf dem „Deutschland den Deutschen“ zu lesen war. Gestickt in Fraktur. Irgendwann hatte er im Suff einen schweren Unfall, vobei sein Gesicht zerschrottet wurde. Gänzlich. Er hatte überall große Narben und sein rechtes Auge hing drei Zentimeter unter normal, so als würde es da nicht hingehören, als hätte ihm jemand ein Glasauge in die Wange gedrückt. Sein Bein zog er, nachdem er endlich die Krücken weglassen konnte, nach wie ein totes Stück Fleich. Er war für sein Leben lang gezeichnet und spätestens jetzt sah er mordsgefährlich aus. Dieser irre Blick. Später dann erzählte er, er wurde mit einem Baseballschläger verprügelt, von Punks. Das sollte wohl seiner Vita dienen. Viele glaubten ihm. Ich nicht, ich bumste seine kleine Schwester, zumindest dachte er das. Wir haben uns gehasst, er und ich. Ich versuchte, ihm nie alleine über den Weg zu laufen.

Sein bester Freund, oder besser: Kamerad vom selben Schlag war der Ex von der Kleinen und hasste mich dafür, dass ich jetzt mit ihr fummelte. Er hasste mich wie die Pest. Als die Kleine an einem Wochenende nicht da war, kamen ihr Bruder, ihr Ex und diverse Freunde von ihnen zum Jugendclub um mir anständig die Fresse zu polieren. Ich flüchtete durch das Küchenfenster und rannte um mein Leben. Der Mob jagte mich erst über das gerade frisch gepflügte Feld, aus dem noch die Strohstummel des letztes Jahres ragten. Dann trieben sie mich in den neuen Bahnschacht. Sie erwischten mich nicht. Das war mein Kaff, mein großer Spielplatz, meine Westentasche! Niemand konnte mich dort fangen. Schon gar nicht eine Horde Halbaffen, von denen einen Großteil aus dem Nachbarkaff kam.

Ihr Ex lies sich später die Haare wachsen, zog die Stiefel aus, wurde toleranter Hedonist, der in Berliner Klubs Technoplatten drehte. Wir spielten sogar öfter im selben Line Up, soffen zusammen und machten unseren Frieden. Ich sagte ihm, dass mit der Kleinen nie was lief. Sie wollte zwar gerne, aber ich hatte Angst um mein Leben, das ich nicht für einen Fick zu riskieren bereit war. Er lächelte verlegen.

Als ich heute in dem Kaff war, sah ich ihren Bruder. Er stand rauchend vorm Supermarkt. Er sah aus, als wären die letzten 15 Jahre an ihm vorbeigezogen, ohne irgendwas in ihm bewegt zu haben. 9-Loch Walkers, hochgeschraubt, in denen natürlich weiße Schnürsenkel steckten, hochgekrempelte 501er (Domestos ist wohl nicht mehr der Knaller) , Thor Steinar Hoodie und eine weinrote Harrington. Auf seiner Brust ein Sticker: „Nationaler Sozialismus jetzt!“. Gestickt in Fraktur. Hass in seinem kaputten Auge, das Bein zieht er immer noch nach. Ein gebrochener Mann. Er hat mich nicht erkannt – ich ihn schon. Diese Fresse werde ich nie vergessen, seinen Namen auch nicht. Ich hätte gerne gefragt, was die Kleine macht, hab sie ewig nicht gesehen. Ich habe es nicht getan.

3 Kommentare

  1. bemme5116. Februar 2009 at 13:31

    Kommt mir einiges bekannt vor… #Neunziger #Glatzen #Rennen #Mucke ….

    schön geschrieben, das.

  2. Julie Paradise16. Februar 2009 at 17:55

    Früher, ja früher, da war das noch gefährlich, wenn man rote Dreads hatte, in Schöneweide und anderswo (ich war wegen einer Freundin auch oft in Hellersdorf unterwegs). Ich hatte trotzdem Dreads, klar, und zweimal Pech, und öfter noch Angst. Was bin ich froh, daß diese Zeiten (für mich) vorbei sind.

    Damals gehörte das zu meinem Leben und ich glaube, hätte meine Mutter wirklich gewußt, was es Mitte der Neunziger hieß, solche Haare zu haben, sie hätte sie mir im Schlaf abgesäbelt.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert