Zum Inhalt springen

Kategorie: Die Wende

Feature: Rio Reiser 1988 in Ostberlin

Kurzer Nachtrag zum 70. Geburtstag von Rio Reiser: ein Feature über die beiden Konzerte, die Rio im Oktober 1988 in der Ostberliner Werner-Seelenbinder-Halle gegeben hat. Der einstige Ton Steine Scherben Frontmann in der DDR. Da wäre ich so was von gerne dabei gewesen, war aber schlichtweg noch zu jung, um abends auf Konzerte zu gehen. So blieb mir später nur das Doppelalbum, das bis heute zu den wichtigsten zählt, die ich je gekauft habe. Immer noch und immer wieder Gänsehaut. Was für unbeschreibliche Momente, die die Menschen dort geteilt haben dürften. Wahnsinn.

Und dann, nach der Umbaupause, endlich: Grüner Nebel, blaue Scheinwerfer, und heraus tritt lächelnd ein schmaler Mann in Röhrenjeans und Sakko, eine Schiebermütze auf dem Kopf: Rio Reiser! Links neben ihm im weißen Hemd, Strohhut und Gitarre: Lanrue. Die beiden, die das Herz von „Ton, Steine, Scherben“ gewesen waren, die „Keine Macht für niemand“ und „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ gesungen hatten, hier in der piefigen Republik der alten Männer! Die Fans singen jede Zeile mit, tanzen, manche mit Tränen in den Augen, schwenken schwarz-rote Anarcho-Fahnen. Rio beginnt mit „Alles Lüge“. Ein Spaßsong, gewiss, aber in der DDR ist nichts nur Spaß, hier kann man nicht „Alles Lüge“ singen, ohne dass sich das Publikum seinen Teil dazu denkt.

Einen Kommentar hinterlassen

Die anderen Bands und der Soundtrack der Wende: Kein Bock auf Ostrock

Umfangreiches und sehr interessantes Special von hr1, das sich nach 30 Jahren des Mauerfalls dem Soundtrack der Wende in der DDR widmet.

Als am 9. November 1989 die Mauer fällt, haben nicht nur schon tausende junge Leute die DDR verlassen. Viele von denen die noch da sind, haben sich schon lange vom Staat und den etablierten Ostrockbands abgewandt. Den Soundtrack ihres Lebens bestimmen seit einiger Zeit junge und unangepasste Bands. Nicht aus London, New York oder der BRD – sondern aus Ostberlin, Leipzig oder Karl-Marx-Stadt. Unter dem Label „die anderen bands“ prägen sie für viele den Soundtrack der Wende.

2 Kommentare

Radio-Feature: Daniel Schulz‘ ausgezeichnete Reportage „Jugend in Ostdeutschland – Wir waren wie Brüder“

(Foto: Sludge GCC BY-SA 2.0)

Im Dezember des letzten Jahres veröffentlichte Daniel Schulz in der taz sein danach viel beachteten Essay Wir waren wie Brüder. Ich las diesen Text und fand mich an erstaunlich vielen Punkten wieder. Nicht nur, weil Schulz fast das selbe Alter wie ich hat und nicht nur, weil auch er in einer brandenburgischen Kleinstadt aufwuchs und offenbar ganz ähnliche Erfahrungen gesammelt hat, wie ich in meiner Jugend.

Ist da noch Platz für die Erzählungen der neunziger Jahre aus der Sicht derjenigen, die beim Fall der Mauer zu alt waren, um nichts von der Vergangenheit mitbekommen zu haben, aber zu jung um mitzureden, wie die Zukunft aussehen sollte? Über das Jahrzehnt, in dem auch die Menschen aufgewachsen sind, die heute Hitlergrüße zeigen und brüllen?Ist da noch Platz für die Erzählungen der neunziger Jahre aus der Sicht derjenigen, die beim Fall der Mauer zu alt waren, um nichts von der Vergangenheit mitbekommen zu haben, aber zu jung um mitzureden, wie die Zukunft aussehen sollte? Über das Jahrzehnt, in dem auch die Menschen aufgewachsen sind, die heute Hitlergrüße zeigen und brüllen?

Für seinen großartigen Text erhielt er in diesem Jahr und zurecht den Deutschen Reporterpreis. Nun wurde auf der Basis des Essays ein wirklich verdammt hörenswertes Radio-Feature produziert, das ich mir letzte Nacht anhörte und mich mal wieder, wenn auch nicht immer, sehr häufig wiederfand. Schulz ist hier sehr ehrlich, sehr reflektiert, wenig verkitscht. Auch kritisch lässt er seine Jugend ganz persönlich Revue passieren. Manchmal so, dass es auch ein wenig wehtut. Und das schafft er ganz ohne Selbstmitleid. Mit Blick auf die Welt um sich herum, die zu dieser Zeit gerade untergehende DDR. Außerdem holt er seine Erlebnisse und damals gemachten Erfahrungen in die Neuzeit, die hier im Osten immer noch jede Menge Neonazis ganz offen durch den Alltag wandeln lässt – mehr denn je. Aber: sie waren nie weg.

Er ist vor Neonazis weggelaufen und er war mit Rechten befreundet. In Ostdeutschland ging das damals zusammen. Und er spricht mit Menschen, denen es ähnlich ging: „Mit den 90er-Jahren verbinde ich persönliche Erlebnisse, die derzeit wieder hochkommen“, sagt Manja Präkels, Autorin des Buches ,Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß’, „und wenn ich im Land unterwegs bin, sehe ich jetzt oft genau die Leute bei der AfD wieder, die sich als Sieger der Kämpfe der 90er-Jahre begreifen.“


(Direkt-MP3)

Ich möchte das nicht um die Bitte nach Verständnis oder verstanden wissen, teile nicht alte Haltungen von Schulz bin ihm aber dennoch dankbar für den Versuch einer Erklärung. Denn genau so war das damals für die, „die beim Fall der Mauer zu alt waren, um nichts von der Vergangenheit mitbekommen zu haben, aber zu jung um mitzureden, wie die Zukunft aussehen sollte.“

Wenn ihr wissen wollt, wie es sich als im Osten Geborener angefühlt haben könnte, der dann in einem für ihn völlig neuem System langsam erwachsen wurde, nehmt euch die Stunde Zeit. Denn ich weiß, dass Daniel Schulz mit diesen Erfahrungen nicht alleine ist.

Ein Kommentar

415 Stunden privates Filmmaterial aus der DDR als Online-Archiv: Open Memory Box

Der rbb kündigte vor drei Wochen ein umfangreiches Online-Archiv an, das 415 Stunden an privatem Filmmaterial aus der DDR zugänglich machen wolle. Mittlerweile ist dieses als Open Memory Box online und man kann sich durch unzählige, mal mehr mal weniger spannende Privataufnahmen aus der Zeit von 1947 bis 1990 klicken. Und genau für derartige Projekte liebe ich das Internet noch immer hart.

Es folgt die Suche nach Sponsoren und ein deutschlandweiter Aufruf, Filmaufnahmen jeglicher Art aus der Zeit zwischen 1947 und 1990 aus der DDR einzusenden. Dass am Ende 415 Stunden privater Filmsequenzen auf Schmalfilmrollen von fast 150 Familien zusammenkommen, hat selbst die kühnsten Hoffnungen der Initiatoren übertroffen. Sechs Jahre hat es gedauert, das Material zu digitalisieren und zu verschlagworten. Jetzt sind all diese Filmaufnahmen im Netz zu sehen.

Es sind teils berührende, teils intime, oft banale Amateuraufnahmen: Strandszenen, Arbeitswelt, Familienfeiern, Kundgebungen. Spektakuläre Sequenzen, wie die zufällige Aufnahme einer versuchten Republikflucht, gibt es zwar auch, sie sind aber die absolute Ausnahme: Gefilmt wurde ein Mann, der in Kleidung aufs offene Meer hinausschwamm – vermutlich, um zu einer Fähre zu gelangen – und der von einem Boot der DDR-Küstenwache abgefangen wird.(Tagesschau)

3 Kommentare

DEFA-Doku von 1990: Berlin – Prenzlauer Berg

Als ich Mitte der 1990er Jahre gerade meine erste Ausbildung machte, arbeitete ich ziemlich häufig im Prenzlauer Berg. Als in Brandenburg lebendes Ostkind war ich zu DDR-Zeiten tatsächlich nie in Prenzlauer Berg, zum Einkaufen fuhren wir damals regelmäßig nach Mitte. Darüber hinaus mal in SEZ und in den Pionierpark. Der Prenzlauer Berg war da irgendwie nie Ziel unserer Ausflüge.

Um so beeindruckter war ich später, als ich regelmäßig dort war, um die alten, mitunter vergammelten Häuser unter neue, frische Farben zu bringen. Der Stadtteil hatte zu der Zeit einen nicht erklärbaren Spirit. Alles war im Umbruch, überall wurde Alt zu Neu und ich war Teil dieses Prozesses. Ich lernte dort, was „Kiez“ bedeutet und liebte diese Zeit. Noch heute erinnere ich mich gerne an diese Zeit. Fiel mir gerade ein, als ich diese DEFA-Doku aus dem Jahr 1990 sah. Die so ziemlich das zeigt, was ich damals vorfand.

Bilder aus dem Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg in der Wendezeit vor der Währungsunion. „We need revolution“ singt „Herbst in Peking“ aus dem Prenzlauer Berg in den Trümmern der Mauer am Rande ihres Stadtbezirks. Dabei ist im Mai ’90 schon fast alles gelaufen. Im „Prater“ schwooft Knatter-Karl mit seiner Freundin. Frieda und Gerda im „Hackepeter“ sind erschüttert; denn gleich nach dem Fall der Mauer wurde im Tierpark ein Papagei gestohlen. Die Polizei jagt bewaffnete Männer, während Näherinnen erklären, warum die Vietnamesen zuerst entlassen werden. Ein einsamer Gast aus dem „Wiener Cafe“ singt zum Abschied das Lied von der Heimat, während die rumänische Combo zum Balkan-Express zurückeilt. Die Hausbesetzer träumen von Anarchie und Frau Ziervogel, Inhaberin von Berlins berühmtester Würstchenbude „Konnopke“, segnet das erste Westgeld. Der Tag der Währungsunion ist da. Filipp Moritz besetzt den Prenzlauer Berg.

Der Staatsvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten und der Beginn der Währungsunion am 1.7.1990 durchzieht den Dokumentarfilm und zeigt die hohen Erwartungen, die mancher Bürger daran hegt, aber auch die befürchteten negativen Auswirkungen auf die Menschen und die Gesellschaft.


(Direktlink, via Mathias)

Einen Kommentar hinterlassen

Doku: Lugau City Lights – Ein DDR-Dorf schreibt Popgeschichte

Eine sehr schöne Doku über jugendkulturelle Begehrlichkeiten in der DDR und über junge Leute, die es trotz aller staatlichen Widerstände einfach mal gemacht haben, was nicht ganz ungefährlich war.

In Lugau, einem kleinen Dorf im Spreewald, ist es still. Zu still. Der einzige Ort, der etwas Leben verspricht, ist die Kneipe. Kein Wunder also, dass der Ostfrust insbesondere bei der Dorfjugend allgegenwärtig ist. Das Leben von Alexander Kühne und seinen Freunden dümpelt geradezu dahin: Kohlebau, Weißkohlernte. Kurzum: viel Langeweile, wenig Coolness. Bei Bier und Zigaretten beginnen sie herumzuspinnen, malen sich aus, wie es wäre, ein Stück der pulsierenden Metropole nach Hause zu holen. Sie wollen etwas noch nie Dagewesenes schaffen, dem Mikrokosmus der DDR etwas ganz Großes entgegensetzen. Sie träumen groß – Spielen mit dem Gedanken, einen Musikclub zu gründen, in dem sich auch David Bowie wohlgefühlt hätte. Die Volkspolizei wittert eine Revolution, die Nachbarn Ruhestörung. Die Hürden scheinen unüberwindbar – und doch gelingt es. Aus der ehemaligen Dorfgaststätte wird der Jugendclub „Extrem“. Die größte Party ihres Lebens beginnt – mitten im Nirgendwo der DDR. Bis in die 90er zieht der Musikclub in der Provinz rockwütige Partygänger aus Berlin, Cottbus, Dresden und Leipzig an. Bands wie Rammstein, Fettes Brot oder Sandow bringen die Bühne zum Beben. Heute ist die Bühne verwaist, die Punkkonzerte von einst sind nichts weiter als bloße Erinnerung. 2017 reist Kühne zurück an den Ort, an dem er und seine Freunde einst das Unmögliche möglich machten. „Lugau City Lights“ zeigt überschäumende Popkultur, wo sie keiner vermutet – in einem Dorf zwischen Dresden und Berlin – und erzählt die Geschichte von jungen Menschen, die weder aus der DDR flohen noch sie bekämpften, sondern sie einfach ignorierten: mit einer musikalischen Revolution im einem Dorfsaal.

Ein Kommentar

Preisverzeichnis über Wurstwaren in der DDR

Es gab die Tage diese unsäglich bescheuerte Debatte über Schweinefleisch oder eben nicht Schweinefleisch an zwei KiTas in Leipzig. Ihr habt das sicher mitbekommen. Ich fand die so unsäglich bescheuert, dass ich da auch gar nicht weiter drauf eingehen will. Niemand _muss_ Schweinefleisch essen, nicht mal als jemand, der nicht Muslim ist. Strohpuppenargumentenaktion, die unsägliche BILD wieder ganz vorne mit dabei. Geschenkt.

Das DDR Museum hat vielleicht auch in diesem Zuge gestern eine Preisliste für Fleisch- und Wurstwaren in der DDR geteilt, die, wie ich vermute, aus den späten 1970ern bis frühen 1980ern stammen müsste. Und dabei fällt mir auf, wie verhältnismäßig billig Fleisch auch und gerade zu DDR-Zeiten war. Im Jahr 1989 verdiente ein Arbeitnehmer in der DDR im Durchschnitt 1.300 Mark (Ostmark) im Monat. Daran gemessen war das Fleisch tatsächlich relativ preiswert. Im Gegensatz zu Technik und/oder irgendwelchen „Lifestyle“-Artikeln. Und: wir hatten ja nicht viel, aber wir hatten „Schweineschnauze in Aspik“, die schon damals niemand essen _musste_. Hihi. Kreis closed.

4 Kommentare

19. Juli 1988, Ostberlin: Bruce Springsteen – Dancing in the dark (live)

Ich bin noch im Urlaub, weshalb der Laden hier etwas zu veröden scheint. Das ändert sich nächste Woche wieder, aber Internet ist mir gerade ein bisschen egal. Aber es gibt Ausnahmen. Ich lese viel darüber, wo ich gerade bin und guck nebenbei immer so, was mich interessiert, und wofür mir sonst so die Zeit fehlt.

Heute vor 31 Jahren spielte Bruce Springsteen in Ostberlin vor (vermutlich) 160.000 Menschen sein erstes und einziges Konzert in der damaligen DDR. Es dauerte gut vier Stunden. Historiker geben diesem Abend eine Teilverantwortung für den Fall der Mauer, der im Herbst des folgenden Jahres stattfinden sollte.

Hier sein „Dancing in dark“, für das irgendwann eine junge Frau auf die Bühne kam, um mit ihm dazu zu tanzen.


(Direktlink)

8 Kommentare

Wie war das im Osten? – Verkäuferin in der DDR: „Wir waren der Buhmann der Nation“

Hörenswerter, sehr interessanter Podcast von Michael Schlieben und Valerie Schönian für die Zeit, die dafür mit der ehemaligen Konsum-Chefin Sigrid Hebestreit über Bückware und Wartegemeinschaften gesprochen haben.

In der DDR war Mangel eine zentrale Erfahrung. Hungern musste niemand, aber Südfrüchte gab es nur selten. Auf ein neues Auto musste man jahrelang warten. Für andere Produkte, etwa flauschige Handtücher, Baumaterialien oder Backzutaten, musste man lange anstehen. Für manche Produkte stellten sich DDR-Bürger schon mitten in der Nacht an – ohne Garantie, die Waren am Ende wirklich zu bekommen. „Sozialistische Wartegemeinschaft“ nannten sich die Schlangensteher selbstironisch.


(Direkt-MP3)

4 Kommentare

Kraftklub-Sänger macht Song über Nazis – und was das mit mir macht: KUMMER – 9010


(Direktlink)

Brandenburg zu Beginn der 90er Jahre: Sich für eine Seite entscheiden müssen. Entweder bei den Nazis sein oder eben zu den anderen gehören und Stress mit den Nazis riskieren. Wenn es sein musste, drei mal die Woche. Vor ihnen wegrennen, sich einen Club über dem Kopf anzünden lassen. Manchmal es drauf ankommen lassen. Austeilen oder kassieren. Die Entscheidung vorher kaum einschätzen könnend. Mal ausgeteilt, mal kassiert. Austeilen fühlte sich immer geiler an. Trotzdem kassiert. Das nicht bereut. Es wieder drauf ankommen lassend. Reden wollten die nie.

Vor ein paar Wochen Reha in dem Nest in Brandenburg gehabt, in der ich genau das alles 1990 – 1993 erlebt habe. Weil ich dort heranwuchs und nach all dem ganz schnell das Weite Richtung Berlin suchte und auch fand. In der Zeit viele der alten, bekannten Gesichter gesehen. Kaputt mitunter. Mein Mitleid hielt sich in Grenzen. Sie waren einer der Gründe, warum ich von dort abgehauen, wo ich meine Kindheit verbrachte. Eben auch dieser Wichser wegen, die immer dachten, dass für sie andere Regeln gelten würden. Und der Staatsapparat gab ihnen damals nicht das Gefühl, dass sie mit diesem Bewusstsein falsch liegen würden.

Handys, an denen man Licht anmachen konnte, um seine Zähne auf dem Asphalt suchen zu können, gab es damals noch nicht. Ansonsten passt dieser Text von Felix Brummer alias KUMMER, seines Zeichens Sänger von Kraftklub, sehr krass auf die Erinnerung an meine Jugend. Und auf die Leute, die mich damals „klatschen“ wollten, und heute komplett im Arsch wie Zombies durch unser damaligen gemeinsames „Ghetto“ wanken. Zu den Opfern geworden, zu denen sie uns damals machen wollten. Fickt euch. Immer noch.

Kummer hat mit dem Spiegel über diesen Song gesprochen, über Nazis und über sein Leben in Chemnitz. Ein wirklich lesenswertes Interview. Und: ein Mega-Video auch.

Ein Kommentar