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Die Stiche in der Magengegend bleiben

Damals sagte jemand zu mir, „Es wird erträglich sein, wenn du nicht mehr täglich an ihn denkst.“ Heute ist es erträglich, es ist okay, es gehört zum Leben.

Ich hatte ihn noch so vieles fragen wollen, fragen müssen. Wie das war mit den Grenztruppen, wie er es da 19 Jahre seines Lebens ausgehalten hat, wie es war mit seiner ersten Ausbildung zum Bäcker, warum er nie wieder selber Brot gebacken hat, geschweige denn Kuchen. Wie genau er den Teig für seine „Strindjbørg-Schnitzel“ macht, die ich immer geliebt habe. Wie ich am besten fahren muss, wenn ich auch nur irgendwo in Deutschland hinreisen will. Wie man was am besten mit welchen Pflanzen, welchen Böden, welchen Bäumen im Garten machen muss, damit sie noch schöner aussehen und noch mehr Ertrag bringen. Wie das Zeug hieß, mit dem er damals immer die Blattläuse von seinen geliebten Pflanzen vertrieb. Und die Ameisen. Was für ein Öl welchen Motor am besten schmiert. Wo ich hingehen muss, wenn das Auto mal wieder kaputt ist. Wie die damals hießen, die wir damals irgendwo getroffen haben. Ob er wirklich mal eine Affäre hatte, wie immer viele, die ihn und seinen bei den Frauen durchschlagenden Charme gekannt haben. Und, dass wäre wohl die Finale Frage gewesen, wie es ihm ergangen ist nach der Wende. Aus der Uniform und den Sitz eines Krankentransporters. „Wie war das?“ hätte ich gefragt, „Was denkst Du darüber?“ Ich werde keine dieser Fragen mehr stellen können. Ich komme zu spät, er ging zu früh.

Ich hätte ihm gerne noch so viel zeigen wollen. Die Atlantik-Küste hätte ihm sehr gefallen, Skandinavien auch. Da wollte er immer hin. Zwei Tage bevor es vorbei war, fragte er unter schwerster Anstrengung, wer mit ihm zu Ostern zum Nordkapp fährt. Das wollte er gesehen haben, bevor sterben sollte. Ich hätte ihm gerne das mit dem Internetz gezeigt. Diese ganzen tollen Sachen, von denen auch ihm ganz sicher einiges gefallen hätte. Er mochte dieses neuartige Zeug nicht, es entsprach nicht seiner Vorstellung von Kommunikation, aber ich war sicher, dass ich ihm das irgendwann mal nahe bringen könnte. „Wirst schon noch sehen“, sagte ich immer. Ich hätte ihm gerne gezeigt, dass der Beruf, den ich gegen seinen Willen in einer zweiten Ausbildung lernte, so wichtig sein kann und notwendig. Hätte ihn gerne bei meiner Hochzeit dabei gehabt. Hätte ihm gerne irgendwann die Zeugnisse seiner Enkeltochter gezeigt, die er nahezu vergöttert hat. Das die Pfirsiche in unserem Garten mindestens genauso groß sind, wie er sie in seinem immer haben wollte und es nie geschafft hat. Und das meine Tomaten viel größer sind als seine damals. Vor allem aber hätte ich ihm so gerne seine zweite Enkeltochter gezeigt, die 10 Monate nach seinem Tod geboren wurde und in die er mindestens genauso vernarrt gewesen wäre, wie in die erste. Einige so aus der Eso-Ecke meinten damals, „Für jeden Mensch der geht, kommt ein neuer.“ Ich weiß bis heute nicht, ob das auch familienintern Geltung haben soll, oder ob da gar vielleicht wirklich was dran ist. So magisch. So tragisch wie auch wunderschön; neues Leben schenken. Er war der vielleicht beste Opa der Welt. Sie wird ihn nicht mehr kennen lernen. Zu spät, er ging zu früh.

Meine Mam, die Frau, die er so liebte, die Frau, für die er die letzten Jahre seines Lebens die beste Krankenschwester war, die man sich nur wünschen konnte, ist daran zerbrochen, auch wenn sie das so nie sagen würde. Ich weiß es, ich sehe es in ihren Augen. Er pflegte sie bis zur absoluten Erschöpfung. Er wollte, dass sie in Würde krank sein konnte. Sie konnte. Das alles wegzustecken fiel ihm nicht leicht. Er trank. Nicht maßlos, aber mehr als gut war für seine von der Hepatitis geschundene Leber. Die Medikamente taten ihr übriges dazu. Er dachte, das wäre okay, fragte extra den Arzt. Auch der meinte, es sei okay. Es war nicht okay – es war zuviel. Vielleicht hätte alles anders laufen können, wenn die Krankenschwester ihn nicht in die Blutvergiftung gespritzt hätte. Vielleicht auch nicht. Außer mir will keiner die Krankenakten einsehen. „Es ändert nichts mehr“, sagen sie und sie haben wohl recht.

Seit dem Tag seiner Beerdigung war ich nicht mehr an seinem Grab. Er hat keines. Er liegt in einem Wald unter einem Baum. Nummer 79. So hatte er es gewollt. Könnte sein, dass ich da nie wieder hingehen werde, ich ertrage es nicht. Wenn mich jemand fragen würde, was der bisher schlimmste Tag in meinem Leben war, würde ich nicht sagen, der seines Todes. Der bisher schlimmste Tag in meinem Leben war der Tag seiner Beerdigung. Es ist nicht die letzte, der ich beiwohnen werde.

Ich habe seinen Tod irgendwie „weggesteckt“, wie man so sagt. Rationell ist das machbar, emotional allerdings weitaus schwieriger, wie ich gerade wieder feststelle. Ich denke nicht mehr täglich an ihn, auch weil es okay ist wie es ist, es gehört zum Leben. Manchmal aber, wenn man an Orte fährt, die man mit ihm gemeinsam besucht hat, wenn man Musik hört, von der man weiß, dass er sie mochte, wenn man isst, was ihm schmeckte, wenn man in seinem geliebten T4-Bulli durch Europa gurkt und immer wenn man auf´s Meer sieht, tauchen diese kleinen schmerzhaften Stiche in der Magengegend auf und machen mich nachdenklich.

Heute wäre er 57 Jahre alt geworden, er hat nicht mal die 55 geschafft. Und ich wünsche mir, er könnte das hier lesen. Er kann es nicht. Ich weiß.

4 Kommentare

  1. jens8. Juli 2009 at 15:10

    schön geschrieben! *schnief*

    meiner ging im alter von 39. damals war ich 17… und 39 noch so weit weg. so alt… heute bin ich 43… vier jahre älter, als er je wurde.

  2. mogreens9. Juli 2009 at 01:33

    ja, sehr ergreifend, davor hab ich jedenfalls richtig schiß!

  3. Hausrabe9. Juli 2009 at 09:37

    Da kommen Erinnerungen hoch. Und es ist schön unschnulzig geschrieben. Respekt.

  4. nicht wichtig11. Juli 2009 at 12:02

    ab und zu stolpere ich immer mal wieder über diesen blog und lese gerne die beiträge des autors. dieser text hat mich so sehr emotional ergriffen, dass gerade eine kleine träne über meine wange kullert, obwohl ich die menschen nicht kenne über die geschrieben wird.

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