Zum Inhalt springen

Vor dem Block lag der Wäscheplatz. Auf dem spielten alle Jungen immer „Ball über die Stange“, ein Spiel das sich mal irgendjemand hatte einfallen lassen. Der Ball musste dazu immer über eine Wäschestange gespielt werden um ihn dann im Tor zu versenken, das auch durch Wäschstangen als solches definiert wurde. Es gab sogar kleine Tuniere in der Disziplin. Immer vor dem Block. Die Jungen liebten das. Da war es auch, als ich mit dem großen Jungen in Streit geraten bin. Ich war acht, er mindestens fünfzehn. Es wollte mich schlagen, weil ich „frech war“, wie er meinte. Ich warf einen Stein nach ihm. Der landete auf seiner Stirn, die stark blutete und ihm eine anständige Narbe fürs Leben schenkte. Seine Mutter war nicht begeistert aber ich ich war viel zu klein, um Ärger zu bekommen. Insgeheim fanden das auch alle sehr mutig. Außer ihm und seiner Mutter natürlich. Hinter dem Wäscheplatz lag eine große Wiese, die durch zwei Blöcke gesäumt wurde. Geradezu konnte man die Hauptstraße sehen, die im Schatten der alten Kastanien durch die Stadt führte. Im Frühsommer fuhren jedes Jahr die Friedensfahrer durch. Wir bekamen dann schulfrei und konnten ihnen zujubeln, was wir immer voller Freude taten. Wenn im Herbst die Kastanien ihre Früchte verloren, haben wir sie eingesammelt und in die Schule gebracht, – für die Tiere im Wald. Wir schleppten säckeweise Kastanien und Eicheln dorthin. Es gab eine Liste, auf der gekennzeichnet war, wer schon am meisten Futter abgegeben hat. Wir standen oft auf dieser Liste.

Um die Wiese vor dem Block befanden sich so etwas, was man heute nicht mehr Straßen nennen würde. Es waren eher Wege. Parkplätze gab es keine. Jeder parkte sein Auto da, wo es eben hinpasste. Kreuz und quer – kunterbunt. Nur auf diese Wiese wagte sich mit dem Auto niemand. Im ganzen Neubauviertel gab es diese Wiesen, vor jedem Block aber auf keiner habe ich jeh ein Auto stehen sehen. Im Sommer saßen die Menschen mitunter auf diesen Wiesen und grillten. Ganze Familienfeste wurden dort im Schatten der Blöcke zelebriert. Die Mädchen spielten dann Federball, die Jungen Ball über die Stange und die Alten soffen. Manchmal sangen sie sogar. Am nächsten Morgen räumten alle gemeinsam auf.

Zwischen der Haustür und der Wiese war so ein Weg und dann standen dort noch die großen und verrosteten Mülltonnen, die manchmal, aus mir unerfindlichen Gründen – auf den Weg geschoben wurden. Wenn der Wind mal stark durch die Blöcke fegte, trieb er die Tonnen immer ein paar Meter, auf diesem Weg, vor sich her. Irgendwer musste sie dann wieder zurückschieben und schimpfte über die Bremsen, die an den Tonnen „mal wieder nicht funktionierten“. Wenn es sehr windig war konnte es auch passieren, dass in der Wohnung die Fenster aufsprangen, was mir immer ein wenig Angst machte. Die Haustür hatte keinen Türknauf, nur eine Klinke. Mann hätte sie abschliesen müssen, um sie zu veriegeln. In den allerseltesten Fällen war sie zu. Nur Schulzes haben sie hin und wieder zugesperrt. Vor der Tür stand ein Hasselnussstrauch. Neben dem planzten manche Bewohner ein paar Blumen. Die Eltern auch, „weil doch schon sonst alles so grau ist in der Neuen Wohnstadt.“ Im Hausflur war dieser graue Granitboden, den immer alle „Terazzo“ nannten. Die Wohnungstüren waren nach zehn Jahren schon vergilbt, – ebenso wie die lackierten Wände -, aber es war immer sauber. Die Türen hatten miserable Schlösser, die man ohne weiteres mit einem Schraubenzieher und einer Zange öffnen konnte, wenn sie denn nicht abgeschlossen waren. Das war zumindest dann praktisch, wenn man mal wieder seinen Schlüssel vergessen hatte. Die Nachbarin half dann immer mit dem Werkzeug aus und wenn doch mal abgeschlossen war, machte sie einem ein Käsebrot, manchmal einen Kakao und nahm einen auf, bis die Eltern kamen. Ober spielte Frau Schmidt immer am Flügel, was der ganze Block hören konnte. Frau Schmidt spielte sehr gut, fand ich. Manchmal begleiteten mich ihre sachten Anschläge in den Schlaf. Die Schmidts waren weit rumgekommen in der Welt. Er war Ingenieur, sie Pianistin. Sie fuhren gemeinsam in die UdSSR, nach Bulgarien, Rumänien, Ungarn und sogar in der Mongolei waren sie mal. Sie brachten uns dann immer kleine Geschenke mit. Die Schmidts waren sehr nett. Außerdem hatten die im Hausaufgang das einzige Telefon. Was erst bedeutungslos erschien, erwies sich dann später als „heißer Draht in die Zentrale“, aber über sowas dachten wir als Kinder nicht nach. Über den Schmidts lag nur noch der Dachboden, den wir immer überaus spannend fanden. Viel Zeug stand dort rum. Und wenn mal wieder eine Familie aus irgendeinem Altbau in den Block zog, verstauten sie alles, was keinen Platz mehr in der neuen Wohnung fand, auf jenem Boden. Er war aus jedem Treppenhaus im Block zugänglich und so konnte man das ganze Haus ablaufen. Sehr häufig spielten wir da oben und wühlten in den Sachen fremder Leute.

Am Anfang der Strasse, also drei Blöcke weiter, war die Kaufhalle an der fast immer Menschen aus dem Viertel anstanden. Wenn dem mal wieder so war, stellte man sich einfach mit an. Manchmal zwei, – dreihundert Meter lang. Es musste schließlich einen Grund haben, warum die da alle anstanden. Wenn man dann den Findling auf Höhe mitte der Strasse erreicht hatte, wusste man, es war nicht mehr lang. Meistens gab es dann Bananen oder Apfelsinen meistens waren die schon lange alle, bevor man endlich am Ziel war. Hinter der Kaufhalle befand sich ein großer Spielplatz, der größte des Viertels. Dort trafen sich immer alle Kinder und auch deren Mütter. Sie brachten Kaffee und Kuchen mit und versüßten sich mit diesem den sonst so grauen Alltag.

Letztens ist die Kaufhalle eingestürtzt. Sie stand schon zehn Jahre leer. Der Spielplatz dahinter wurde neu gemacht, es ist da jetzt nicht mehr soviel los. Aus den Wegen wurden Strassen, daneben gibt es Mieterparkplätze in Reihe und Glied, mit angepinntem Nummernschild, damit sich auch kein anderer darauf stellt. Die Mülltonnen haben nun so eigene Häuschen. Mit dach und abschliessbarer Tür. Damit auch niemand seinen Müll dort reinwirft, der nicht dort wohnt. Alle Türen sind neu, mit Knauf und Gegensprechanlage. Auf die Terrazzo-Böden wurde Linolium geklebt, die alten Haustüren wurden durch dunkelbraune Sicherheitstüren erstetzt und die Wände wurden mit Farbchips bedeckt. Alles sicher – alles sauber. Die Schmidts wohnen da schon lange nicht mehr, die Schulzes auch nicht und wir, sowieso, schon lange nicht mehr.

Alles was immer noch so aussieht, als wäre nie etwas geschehen, ist die alte Wiese. Mit neuem Wäscheplatz versteht sich.

Ich werde nie wieder in einem Neubau wohnen.

Ein Kommentar

  1. Jan20. September 2007 at 18:56

    Danke, einfach mal Danke für das Wiedererwecken dieser Erinnerung.

    Wir hatten auch so eine Wiese im Hof – zwischen zwei Neubaublöcken. Als Kinder spielten wir viel dort, hauptsächlich Fußball. Und wenn gerade Wäsche aufgehängt war, konnte man schon die Zeit abzählen, bis jemand vom Balkon schimpfte. Die Bäume auf der Wiese waren noch mit Pfählen abgestützt, weil sie noch jung und zerbrechlich waren.

    Bei uns lag damals schon Linoleum im Haus, auf dem man nach 20 Jahren an einem hellen Halbkreis genau erkennen konnte, wo die Leute ihre Schritte auf häufigsten setzten.

    Heute wohne ich nicht mehr da, die Bäume sind mittlerweile so hoch wie die Neubauten, nur der Wäscheplatz ist so geblieben, wie er war (neu gestrichen versteht sich). Kinder hört man auch nicht mehr spielen, nur die Jugend, die sich des nachts um den Verstand trinkt und dabei herumgröhlt. Vom Balkon schimpft dann auch keiner mehr, die Furcht vor einem zerkratzten Auto oder anderen Repräsalien ist zu groß. Das Linoleum wurde durch Bodenfliesen ersetzt und Schritte sieht man auch keine mehr – es wurde ein Fahrstuhl angebaut.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert