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Gastbeitrag von Ursula Demitter: Ein Leben in der DDR – Kindheit, Teil 5

Ursula Demitter aus Potsdam ist 67 Jahre alt, lebte und arbeitete in der DDR. Unter anderem bei der DEFA. Heute gibt sie Nachhilfeunterricht und schreibt hin und wieder ihre Erinnerungen von damals in Textdokumente. Da ich ohnehin ein großes Interesse an DDR-Biografien des Alltags habe und möchte, dass derartige Erinnerungen nicht auf irgendwelchen Festplatten verschimmeln und irgendwann einfach den Tod einer Festplatte sterben, packe ich die Texte von Ursula ab jetzt hier in unregelmäßigen Abständen rein. Hier finden sich alle ihrer Texte.

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(Foto: Richard Peter, unter CC von Deutsche Fotothek)

Am Ende unserer Straße begannen die Drewitzer Felder . Im letzten Haus wohnte Anna, meine Klassenkameradin. Jeden Morgen holte ich sie zur Schule ab. Zusammen mit anderen Kindern hatten wir einen weiten Schulweg, den immer alle „Sternkinder“ zusammen gingen.

Annas Eltern hielten einen Boxer, der Jupp hieß. Jupp hatte seinen Platz im Schuppen nur durch eine dünne Bretterwand von der Ziege getrennt. Uns Kinder ließ man mit dem Hund an der Leine nicht allein gehen. Er war zu ungebärdig und zu stark. Es gefiel mir auch nicht, dass er ständig sabberte. Wir durften aber mitkommen, wenn Annas Vater mit dem Hund in den Wald ging. Damals gab es mitten im Wald an der Drewitzer Sternstraße eine wilde Mülldeponie, wohin anscheinend die Drewitzer früher ihren Müll gebracht hatten. Manchmal fanden wir altertümliches Zeug, wie kleine Puppen aus Porzellan, die aber immer beschädigt waren.

Die Siedlung am Stern hatte sich in den zwanziger und dreißiger Jahren aus einer Wochenendsiedlung von gut bürgerlichen Berliner Familien entwickelt. Insofern hatten unsere Funde, auch wenn sie fast immer beschädigt waren, aus unserer Sicht etwas exotisch Vornehmes. Edles Porzellan, Nippes, Gläser, Kerzenhalter, sogar alte Spitze war dabei. Meine Eltern hatten mir verboten mit zur Müllkute zu gehen. Aber ich hielt mich nicht dran, weil ich fand, mit Annas Vater war ein Erwachsener dabei.

Einmal kam ich um Anna abzuholen und wurde in die Küche gebeten, sie war noch nicht fertig. Auf dem Herd brodelte die Brühe mit dem Freibankfleisch für das Hundefutter leise vor sich hin. Ohne Gewürze versteht sich. Es roch nicht gerade verführerisch. Aber Annas Mutter ging völlig selbstverständlich mit Messer und Gabel an das Fleisch, schnitt sich kleine Stückchen ab und verzehrte sie genüsslich. Es schüttelte mich. Eine zeitlang musste ich morgens, wenn ich Anna abholte immer eine Tasse Ziegenmilch-Kakao trinken. Annas Mutter hatte beschlossen, dass ich zu dünn und zu blass wäre. Es schmeckte sehr nach Ziege, aber ich wagte aus Höflichkeit nicht abzulehnen. Annas Mutter war Polin und sprach gebrochen Deutsch mit starkem Akzent. Ein gut gemeinter Satz in ihrer etwas drastischen Erziehung hieß zum Beispiel: „Anna du dumme Zicke, du, spiel nich immer mit die alte Eule..“. Das war der freundliche Hinweis, dass sie ihre Puppe weglegen und der Mutter helfen sollte. Mit Annas Mutter sind wir viel in den Wald gegangen. Dabei musste Jupp immer mit, weil die Mutter im Wald große Angst hatte. Später hat eine Nachbarin behauptet, Annas Mutter musste aus Polen verschwinden, weil sie mit den Deutschen kollaboriert hatte.

Wir suchten Pilze, pflückten Blaubeeren und Preisselbeeren. Es gab wilde Himbeeren, wilde Brombeeren und kleine wilde Erdbeeren. Den ganzen Sommer gab es viele verschiedene Pilze. Annas Mutter wusste immer, wo man etwas finden konnte. Fast immer liefen wir das Breite Gestell bis zur Brücke über die Autobahn und sahen auf die Autos hinunter. Da fuhren echte Westautos, was wir spannend fanden. Die älteren Kinder gingen häufig allein zur Autobahn. Sie winkten den Autos wofür ihnen manchmal Kaugummis oder Schokolade zugeworfen wurde. In der Schule wurde uns gesagt, das dies verboten sei.

In der Nähe der Brücke machte die Autobahn eine ziemlich scharfe Kurve.

Einige Male im Jahr kam es vor, dass ein LKW dort die Kurve nicht kriegte und umkippte. Da immer einige Drewitzer Kinder in der Hoffnung auf Beute an der Autobahn herumlungerten, sprach sich so ein Unfall in Windeseile herum. Dann machten sich die größeren Jungs auf den Weg, um etwas von der Ladung zu erwischen. Einmal waren es Nylonstrümpfe, wie ich dann in der Schule hörte. Die Jungs sammelten Sie heimlich auf und versteckten sie unter ihren Trainingsblusen. So etwas trugen damals fast alle. Wir mussten ja zu Hause unsere Schuklamotten aussziehen und in Trainingsanzügen herumlaufen. Wir waren sowieso abenteuerlich gekleidet. Wir besaßen Winterhosen, die meine Mutter aus einer umgefärbten alten Wehrmachtsuniformen genäht hatte. Dann gab es noch eine echte Kletterweste der Hitlerjugend, die alle drei Kinder nacheinander trugen. Die Schnallen und Aufnäher hatte meine Mutter abgetrennt und die Jacke dunkelbraun gefärbt. Es war ein sehr beliebtes Kleidungsstück unter uns Kindern, sollte aber eigentlich nicht zur Schule angezogen werden. Meine Schwester und ich besaßen weiße Folkloreblusen, die meine Mutter aus Fallschirmseide genäht hatte. Den Fallschirm hatte sie kurz nach dem Krieg heimlich aus einem Waldstück mitgeschleppt, was natürlich auch verboten war. Dazu trugen wir rote Trachtenröcke, die aus einer ehemaligen Nazifahne enstanden waren. Da wo der Aufnäher mit dem Hakenkreuz gesessen hafte, war der Stoff dunkler. Damit es nicht auffiel, stickte meine Mutter mit Perlgarn große Schwarze und weiße Punkte auf.

Einmal kippte kurz vor Weihnachten ein LKW mit einer Ladung Apfelsinen um. Mein Bruder war gerade wieder mit an der Brücke. Er stopfte sich immer wieder die Trainingsbluse voll, rannte in den Wald und legte ein Versteck an. Beim letzten Mal erwischten ihn die Russen und er musste seine Beute zurücklassen. Weil die Autobahn Transitstrasse nach Westberlin war, kamen bei solchen Unfällen immer die Russen, sperrten alles ab und scheuchten die Kinder weg. Doch unsere Familie hatte in dem Jahr zum Weihnachtsfest für jeden in der Familie mehr als drei oder vier Orangen. Es kam uns vor, wie der größte Luxus. In anderen Jahren hatte meine Mutter immer fünf Apfelsinen, also für jeden eine, in Westberlin gekauft und eingeschmuggelt. Sie gehörten traditionell auf den Bunten Teller, sonst war es kein Weihnachten.

Der Verkehr auf der Autobahn war sehr mäßig. So kam es, dass niemand etwas dabei fand, dass die Trecker mit den Langholzfuhren, ja sogar manchmal auch Pferdefuhren mit Holzstämmen auf der Autobahn fuhren. Unsere Eltern wollten eigentlich nicht, dass wir uns dort aufhielten. Es schien ihnen gefährlich. Bei einem Sonntagsspaziergang mit der ganzen Familie hatte mein Vater festgestellt, dass das Brückengeländer total morsch war. Später fuhr ein Junge aus Drewitz mit dem Fahrrad dagegen, das Geländer brach und er fiel auf die Autobahn. Weil er den Grünstreifen erwischt hatte, war der Sturz nicht tödlich. Da lag er nun und wurde von einem Langholzfahrer gefunden. Handys gab es noch nicht, die drei einzelnen Häuser im Priesterweg, die am nächsten lagen, hatten garantiert kein Telefon. Ich kann es mir kaum vorstellen, aber es ging die Legende um, der Fahrer hätte den Jungen oben aufs Holz gelegt und ins Dorf gebracht. Naturlich wusste im Dorf später jeder über einen so spektakulären Vorfall Bescheid. Es ging die Rede, der Verunglückte hätte einen Schädelbruch gehabt und wurde körperlich wieder gesund, soll aber im Kopf etwas zurück behalten haben.

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